King Krule ist Archy Marshall. Archy Marshall ist King Krule. Er hat das schützende Pseudonym aufgegeben, seinen Adelstitel abgelegt und mischt sich nun als Normalsterblicher unters Volk. Ein unüblicher Schritt, versuchen doch alle anderen Superhelden, ihre Identität möglichst geheim zu halten.
Ein Superheld war King Krule auf jeden Fall. Anders ist sein Debutalbum „6 Feet Beneath the Moon“, das er 2013 mit gerade mal 19 Jahren veröffentlicht hat, nicht zu erklären. Zu viele Fragen warf die Diskrepanz zwischen Gehörtem und dem kreidebleichen Antlitz des Künstlers auf. „Wie kann dieser junge Mann schon so traurig sein?“, fragte eine Freundin. Und – viel wichtiger – woher hat dieser rothaarige Teenager, trotz gänzlich fehlendem Resonanzkörper, eine so gewaltige Stimme? Eine Stimme, die so viel mehr Lebenserfahrung und Weltschmerz verkörpert, als man in 19 Jahren jemals ansammeln könnte. Eine Stimme, dank der man lange nicht einmal realisiert, dass der Track „Easy Easy“ komplett ohne Schlagzeug auskommt. Wir waren uns sicher, King Krule – das wird was ganz Grosses. Und wir haben auf die Rückkehr des Superhelden gewartet. Zwei Jahre lang. Nun folgt statt dem langersehnten Comeback das Debut von Archy Marshall. Das ist, als würde Clarke Kent kommentarlos die nächste Ausgabe des Daily Planet in den Briefkasten werfen, während das Haus dahinter von einem Orkan weggefegt wird. Klar, wir wollen die Person hinter der Maske kennen lernen, hinter das Geheimnis der Verkleidung blicken. Aber wenn‘s hart auf hart kommt, ist hoffentlich eine Telefonzelle in der Nähe. Aktuell klafft vor uns ein angsteinflössendes Januarloch. Ist das der richtige Zeitpunkt, als Superheld das Cape bzw. die Krone an den Nagel zu hängen?
Die Antwort darauf liefert Archy Marshall mit „A New Place 2 Drown“. Nicht nur mit dem Album, sondern auch mit einem dazugehörigen Kurzfilm und einem Bild- und Poesieband. Jetzt also Streber statt Superheld. Der Kurzfilm ist ganz ok – Archy unterwegs in South London mit Bruder Jack und Freunden, Mutter Marshall gibt den sympathischen Ur-Hipster. Das Buch hab ich mir nicht angeschaut, das geht zu weit. Bleibt also die Musik. Und die offenbart, dass es nicht nur ein Namenswechsel ist, der sich in den letzten zwei Jahren vollzogen hat. Marshall und Krule sind vielleicht dieselbe Person, aber nicht derselbe Musiker. Die Stimme ist zwar noch hier, aber dezenter, beinahe im Hintergrund, relaxed sanft statt donnernd kantig. Nur auf „Thames Water“, dem letzten Song, lässt er sich nochmals zu einem gequälten „guuuurl this place is evil“ hinreissen, korrekt daher mit „Featuring King Krule“ gelabelt. Die Gitarre fällt ganz weg, an ihre Stelle sind elektronische Downtempo-Beats getreten. Elektro-Hip-Hop ersetzt Neo-Soul-Punk-Jazz – irgendwie so. Neben der Stimme verbindet die beiden Welten aber vor allem etwas: Schwermut. Mindestens so düster, mindestens so desillusioniert, höchstens gleichgültiger als vor zwei Jahren. „A New Place 2 Drown“ – Verzweiflung im neuen Gewand. Nur schon daher ist die ausbleibende Rückkehr des Superhelden zu relativieren. Es ist ja nicht so, dass man sich von King Krule moralische Stärkung für den Montagmorgen hätte versprechen können. Genauso wenig von Archy.
„A New Place 2 Drown“ ist ein Gesamtwerk. Die Songs fliessen ineinander über. Hits, die sich von den übrigen Tracks abheben, gibt es nicht. Beinahe könnte man „Ammi Ammi“ für einen solchen halten. Für einen kurzen Moment wähnt man sich beim langsam aufbauenden Intro inklusive Soundbite und dem einsetzenden Beat in einem DJ Koze-Remix. Nur kurz. Dann holt einen die Stimme zurück. Kein Song entkommt der Verzweiflung. Keiner taugt für die Beschallung eines Einkaufcenters, keiner für die Tanzfläche. Aber das ist auch nicht der Massstab. Denn so uneingängig die zwölf Lieder beim ersten Hören sind, so deutlich zeigen sie die Qualitäten von Archy Marshall als Producer. Er beweist eindrücklich, dass er mehr kann, als seine Stimme zu malträtieren. Das Ganze erinnert an die „200 Press EP“ von James Blake, der damit einen ähnlichen Stilbruch vollführte. Vielleicht ist es das Schicksal übertalentierter Engländer.
War die Selbstentthronung also richtig? Schwer zu sagen. Archy Marshall ist nicht der Superheld, der King Krule 2013 war. Aber solange Archy weitermacht, ist King Krule noch nicht tot. Und wer als 19-Jähriger schon zum Helden erkoren wird, tut gut daran, sich davon zu distanzieren, wenn er nicht bereits mit 27 sterben will. Das ausbleibende Comeback ist vielleicht im ersten Moment enttäuschend, aber durchaus nachvollziehbar. Auf dem Interpreten Archy Marshall lasten keine Erwartungen. Er hält sich alle Freiheiten offen und nutzt diese auch. Und er entzieht sich durch das Rebranding dem altbekannten Star-Wars-Paradox: Alle wollen mehr davon, doch egal was nach dem Original kommt – sie sind enttäuscht.
STUDIO GDS - Die einzigartige Zürcher Radiosendungs- und Partyreihe geht in die zweite Runde. Jeden Donnerstag wird wieder zu fein selektierten Konzerten und DJ-Sets in den Freitag hineingetanzt und cocktailschlürfend Neues entdeckt. Auf der Tanzfläche im Kauz und on air auf GDS.FM.
Von Kaiser Scheiss.
