Als Fiktion ist der Anachronismus ja eine lustige Sache – diese bewusste oder unachtsame Verwechslung der Zeiten. Mal verschlingt Obelix bei den Schweizern bereits ein Fondue, mal tauchen im Historiendrama Requisiten auf, die es dort gar noch nicht geben dürfte. Stört keinen ausser den paar Nerds, die uns dann „die 10 grössten Fehler in ‚Titanic’“ präsentieren. In der Realität sind Anachronismen aber meist weniger witzig: Gotteskrieger mit mittelalterlicher Gesinnung installieren Kalaschnikows auf ihrem Toyota, ein verzogener Kronprinz bastelt in Nordkorea an einer Atombombe und James Blake veröffentlicht ein Album – mitten im Frühling.
So geschehen am 6. Mai: Es ist das Wochenende nach Auffahrt. Aus dem untersten Schrankabteil werden die kurzen Hosen hervorgekramt, der Wegwerfgrill hat Hochkonjunktur. Und ohne grosse Vorankündigung veröffentlich James Blake drei Jahre nach „Overgrown“ sein drittes Studioalbum. Man kann das hochgestochen ‚anachronistisch’ oder schlicht schlechtes Timing nennen, die Konsequenz bleibt die gleiche: Wir müssten uns nun bei 24 Grad mit 76 Minuten Tristesse auseinandersetzen. Denn sowohl das trübe Cover wie auch die ersten Klänge bestätigen schnell, was zu ahnen war – einen Sommerhit wird man auf dieser Platte nicht finden. „The Colour in Anything“ ist bei James Blake vorwiegend Grau, vielleicht mal Dunkelblau, allerhöchstens Pastelllila. Keine Chance.
Eine Woche ist seither vergangen. Die kurzen Hosen sind wieder im Schrank verschwunden und die Regenbalken auf MeteoSwiss überbieten sich jeden Tag aufs Neue. Perfektes James Blake-Wetter. Kopfhörer rauf und rein in die emotionalen Abgründe des jungen Londoners, der sich auf „The Colour in Anything“ absolut treu geblieben ist. Tiefe Bässe, elektronische Beats, Piano. Darüber seine unverkennbar klare Stimme. Während er 2015 auf der „200 Press“ EP fast gänzlich auf dieses Markenzeichen verzichtet und auf eigenwillige, uneingängige Arrangements gesetzt hatte, steht sie nun wieder im Zentrum. Also back to „Retrograde“. Seine Qualitäten als Singer sind derweil so gut, dass er den Songwriter-Teil getrost zur Nebensache erklären kann. Er tut es auch. Wer einen Blick auf die Lyrics von Songs wie „Radio Silence“ wirft, könnte meinen, er habe Jack Nicholsons Schreibmaschine mit dem „all work and no play“-Mantra vor sich. Über das ganze Album hinweg ändern sich die Phrasen von Trennung und Trauer nur unwesentlich. Aber James Blake erzählt mit seiner Stimme auch nicht wirklich Geschichten, sondern erzeugt Stimmungen. Stimmungen, nach denen noch vor einer Woche kein Mensch gefragt hat, die nun aber den perfekten Soundtrack zur Sintflut bilden.
Beim ersten Durchhören scheint es, als ob drei Jahre nach „Overgrown“ die grossen Ideen gefehlt hätten. Keine Hits, die sich aufdrängen und sofort einprägen. Doch je länger der Regen anhält und je öfters man die Platte durchhört, desto stärker überzeugt diese als Gesamtwerk. „The Colour in Anything“ bietet nach langer Wartezeit mit 17 Songs reichlich neuen Stoff für James Blake-Fans und Teilzeitdeprimierte, ohne grosse Neuerungen, aber auch ohne Schwachpunkte. Obwohl – Justin Vernons „woooh“ zu Beginn von „I Need A Forest Fire“ ist der klare Tiefpunkt des Albums. Der Song, bei dem das Featuring von Bon Iver Hoffnungen geweckt hatte, wäre auch ohne diesen gequälten Ausbruch vorgespielter Lebensfreude enttäuschend ausgefallen. Einen zweiten – sicher begabten, aber mindestens so traurigen – Tenor braucht ein James Blake-Album nicht. Wenn sich die düsteren, elektronischen Beats für eine Zusammenarbeit eignen, dann für Hip Hop-Acts, wie dies RZA und Chance The Rapper schon unter Beweis gestellt haben. Für „Timeless“ wären gemäss Blake ein paar Verse von Kanye West geplant gewesen. Geklappt hat es nicht – wahrscheinlich konnte Blake die nötigen 53 Millionen Gage nicht aufbringen. Vielleicht springt ja noch ein anderer Rapper für einen Remix ein. Solange es weiterregnet, ist nichts zu spät.
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By Kaiser Scheiss.
